SFB 1187 ›Medien der Kooperation‹ an der Universität Siegen

Medien der Kooperation in einer globalen Pandemie – Der Stand der Dinge

Zu Beginn des Sommersemesters 2020 findet sich auch der SFB 1187 „Medien der Kooperation“ in einer unerwarteten Lage wieder, die die Verbundforschung vor strukturell und inhaltlich neue Herausforderungen stellt. In der Öffentlichkeit wird kontrovers über die geeigneten Maßnahmen zur Eindämmung der gesundheitlichen Risiken, aber auch der ökonomischen, politischen und sozialen Folgen der globalen COVID-19-Pandemie diskutiert. Parallel werden diverse gesellschaftliche Infrastrukturen erheblichen Stresstests unterzogen: von den basalen Infrastrukturen medizinischer Grundversorgung und der Logistik für Nahrungsmittel und tägliche Konsumgüter bis hin zu den Infrastrukturen digitaler Kommunikation. Weitreichende Kontaktbeschränkungen und Ausgangsverbote, Reiseeinschränkungen, Erfordernisse der häuslichen Care-Arbeit und Kinderbetreuung, sehr akute gesundheitliche Risiken von Mitarbeiter*innen und Studierenden unterbrechen die etablierten Praktiken und den gewohnten Betrieb eines Sonderforschungsbereichs. Routinen der Forschung und wissenschaftlichen Kommunikation stehen in der aktuellen Situation auf dem Prüfstand: Wie lassen sich eingespielte Formate der wissenschaftlichen Kommunikation an die neue Situation anpassen, von der Ringvorlesung mit internationalen Gästen über Doktorandenkolloquia und Werkstätten bis hin zu Konferenzen und Tagungen? Wie lässt sich empirisch-ethnografisch forschen, wenn die Zugänge zum Feld versperrt sind? Und gerade auch in Bezug auf die Verantwortung für die Forscher*innen unseres gemeinsamen Projekts: Wie können Mitarbeiter*innen unterstützt werden, die aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe oder der notwendig gewordenen persönlichen Betreuung von Familienmitgliedern nicht in der gewohnten Weise am Forschungsprozess teilnehmen können?

Der SFB „Medien der Kooperation“ stellt sich der Herausforderung durch die globale COVID-19-Pandemie in mehrfacher Hinsicht. Die Teilprojekte des SFB, die die wechselseitige Konstitution und praktische Verfertigung von Infrastrukturen und Öffentlichkeiten beforschen, reagieren auch inhaltlich auf die anhaltende Krisensituation.
Der SFB hat im März 2020 aktiv damit begonnen, ein Twitter-basiertes Social-Media-Archiv zum Themenfeld Corona und zu verwandten Fragestellungen aufzubauen. Da die politischen Reaktionen auf die Ausbreitung des Corona-Virus weltweit zu Störungen bzw. Unterbrechungen fest etablierter Kooperationsketten in vielen alltäglichen Lebensbereichen geführt haben, bietet die aktuelle Entwicklung einzigartige Möglichkeiten, die Auswirkungen der Corona-Krise im Diskurs der sozialen Medien zu untersuchen: Das betrifft Transformationen von Infrastrukturen und Öffentlichkeiten im Allgemeinen, die gesellschaftliche Rolle von Daten in Form von Fallzahlen, Statistiken und Testergebnissen, aber auch solche der ganz konkreten Forschungsgegenstände der Teilprojekte des SFB im Besonderen (Videotelefonie, kontaktlose Bezahlung, häusliche persönliche Assistenten, Störungen im Nahverkehr etc.). Die Tweets werden mit Hilfe der Open-Source-Software DMI-TCAT in Echtzeit erhoben und analysierbar gemacht. Im Laufe des Sommersemesters 2020 wird ein Zusammenschluss aus SFB-Mitgliedern sowie externen Kolleginnen und Kollegen damit beginnen, die Daten in gemeinsamen (Online-)Datensitzungen zu sichten und zu analysieren. Langfristig ist geplant, das Siegener Corona-Archiv und die damit verbundenen Forschungsergebnisse öffentlich zugänglich zu machen. 
In die Reihe der vom SFB unterstützten boasblogs ist darüber hinaus seit Ende März 2020 der neue Blog Witnessing Corona aufgenommen worden. In Kooperation mit dem Kölner Global South Studies Center und dem Blog medizinethnologie.net werden hier Beiträge aus zahlreichen, auch außereuropäischen Ländern veröffentlicht, die mit ethnografischer Sensibilität die alltagspragmatischen Implikationen, sozialen Dynamiken und politisch-ökonomischen Verwerfungen der Krise aus der Perspektive von Sozialwissenschaften und (Medizin-)Ethnologie registrieren und analysieren. Unter Beteiligung von Clemens Eisenmann (Teilprojekt P01) und Ehler Voss (wissenschaftliche Koordination) entsteht derzeit zudem eine Sonderausgabe der Curare. Zeitschrift für Medizinethnologie, in der umfangreichere Materialien in Form (auto-)ethnografischer Corona-Tagebücher von Autor*innen aus bisher 25 Ländern zusammengetragen werden, um die Dynamik der Krise in situ und in actu zu dokumentieren.

Erhard Schüttpelz und Ulrich van Loyen denken im Merkur über die körper- und kulturtechnischen Implikationen des Tragens von Atemschutzmasken in westlichen und asitatischen Ländern nach. Entgegen dem Diktum der Kanzlerin, dass „im Augenblick … nur Abstand Ausdruck von Fürsorge“ sein kann, fragen die Autoren: „Ist auch das Gegenteil denkbar: Eine Form der Fürsorge für die anderen wäre der Ausdruck der richtigen Abstandnahme von sich selbst?“ Mit dieser Blickwendung auf liberale Diskursverengungen und die damit oft einhergehende Arroganz des Westens verbindet sich eine tiefergehende Reflexion darüber, „was für uns und andere und für uns alle in der Welt Zivilisiertheit und Schutzbedürfnis ausmacht“.

In seinen laufenden Formaten der internen und externen Forschungszusammenarbeit und Kommunikation setzt der SFB „Medien der Kooperation“ auf größtmögliche Flexibilität unter Berücksichtigung besonderer Bedürfnislagen der Mitarbeiter*innen und Gäste. Dies bedeutet konkret und im Einzelnen:

  • Die für das Sommersemester 2020 geplante Ringvorlesung „Interrogating Data Practices – Interdisciplinary Perspectives“ wird größtenteils auf das Wintersemester 2020/21 verschoben. Einzelne Vorträge werden im Rahmen des SFB-Forschungsforums als Online-Vorträge mit SFB-internem Publikum realisiert, um die Diskussion über laufende Forschungsvorhaben und -ergebnisse der Teilprojekte in einem angepassten Rahmen fortzuführen.
  • Das Doktorandenkolloquium des integrierten Graduiertenkollegs (MGK) findet am 6. und 13. Mai online statt. Im Anschluss erfolgt eine Evaluation und gemeinsame Entscheidung mit den Teilnehmer*innen, ob für die beiden folgenden Termine am 10. und 17. Juni auf ein Präsenzformat oder eine Hybridlösung mit einzelnen Teilnehmer*innen vor Ort und der Möglichkeit zur Online-Beteiligung umgestellt werden sollte.
  • Die erste Veranstaltung der „Werkstatt Medienpraxistheorie“ wird am 28./29. April über die Kombination einer asynchronen Online-Vorlesung und einer gemeinsamen Online-Diskussion durchgeführt. Eine Entscheidung über weitere Veranstaltungen wird unter Berücksichtigung aktueller Entwicklungen rechtzeitig getroffen und kommuniziert.
  • Das Gestaltungslabor (Research Tech Lab) findet am 5. und 13. Mai wie schon am 15. April online statt. Für die folgenden Termine am 09.06. und 07.07. wird, analog zum Doktorandenkolloquium, geprüft, ob die Umstellung auf ein vollständiges oder hybrides Präsenzformat verantwortbar und zielführend ist.
  • Für das Sommersemester geplante Workshops und Tagungen einzelner Teilprojekte des SFB sind gleichermaßen von den Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie betroffen. Die Leiter*innen der betreffenden Teilprojekte wählen unterschiedliche Ansätze zum Umgang mit dieser Herausforderung: von einer Verschiebung der Veranstaltungen in das kommende Wintersemester über die Umstellung auf kollektive Textarbeit bis hin zu hybriden Workshop-Formaten, in denen internationale Gäste mit den Siegener Wissenschaftler*innen vor Ort kooperieren.
  • Allen Mitarbeiter*innen des SFB wird zeitnah zu Beginn des Semesters die Möglichkeit gegeben ein Einzelcoaching zu den Herausforderungen von Tele-Arbeit und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf unter den aktuell verschärften Bedingungen wahrzunehmen.

Zu Beginn des Jahres 2020 war für die beteiligten Wissenschaftler*innen die aktuelle, kritische Entwicklung der COVID-19-Pandemie nicht absehbar. Sie verlangt in erster Linie nach Solidarität mit den besonders gefährdeten Gruppen der Bevölkerung und mit den aktuell stärker als Deutschland betroffenen Ländern. Für die kultur- und sozialwissenschaftliche Medienforschung an der Universität Siegen bedeutet die Krise darüber hinaus auch, dass die laufende Forschung zu den Medien der Kooperation ihre Relevanz und Aktualität im Härtefall unter Beweis stellen muss – von der Geschichte der Videotelefonie (Teilprojekt A01), über die normalen Betriebsausfälle (A04), die partizipative Gestaltung autonomie-fördernder Infrastrukturen für ältere Menschen (A05), die mediengestützte Kooperation im Klinikalltag (A06), die Effekte digitaler Medien auf familiäre Interaktionsordnungen (B05), die Untersuchung der Datenschutz- und Überwachungsimplikationen
digitaler Mediennutzung im häuslichen Umfeld (B06), den Einsatz semi-autonomer Systeme wie Drohnen als neue Kriseninfrastruktur (B08) sowie den Einsatz und die Entwicklung digitaler Forschungswerkzeuge in dezentralen Arbeitsumgebungen (P03, INF). Der SFB sieht sich in der Verantwortung einen Forschungsbeitrag zum Umgang mit den soziotechnischen Folgen der COVID-19-Pandemie zu leisten.