Streifzüge durch das neue multimediale Forschungstool „Bundle Explorer: Berühren“
mit Bina E. Mohn (Zentrum für Kamera-Ethnographie, Berlin) und Astrid Vogelpohl (Universität Siegen)
Die SFB-Forscherinnen vom Teilprojekt B05 stellten im Dezember letzten Jahres ihre selbstentwickelte, neue Forschungsplattform, den „Bundle Explorer“, der Forschungsöffentlichkeit vor. Im Rahmen eines eintägigen Workshops diskutierten sie den Umgang mit diesem Tool und erprobten neue Erkundungspfade und Denkwege. Mit dem Bundle Explorer leisten die Forscherinnen einen wichtigen Beitrag zu einer praxistheoretischen Methodenentwicklung am SFB.
Über die Forschungsplattform Bundle Explorer
Der Bundle Explorer ist eine von Bina E. Mohn, Astrid Vogelpohl und Pip Hare entwickelte multimediale Forschungsplattform. Mit dem Forschungstool möchte das Team zum Verständnis situierter Sinnespraktiken in digitalisierten Alltagswelten beitragen.
Die Forscherinnen entwickelten die Plattform im Rahmen ihrer kamera-ethnographischen Forschungen zu Sinnespraktiken in der digitalen Kindheit. Dabei orientierten sie sich methodisch an Ludwig Wittgenstein und seinem Sprachspiel-Ansatz. Mit dem Bundle Explorer lassen sich kurze Filme wiedergeben und die sich darin zeigenden Sinnespraktiken genauer untersuchen. Der Name Bundle Explorer verweist auf Theo Schatzkis Theorie (2016), dass sich menschliche Handlungs- und Sinnespraktiken und die Umgebungen, in denen sie stattfinden, zu Bündeln formieren. Mit dem Bundle Explorer lassen sich, wie von Schatzki vorgeschlagen, diese Bündel genauer untersuchen und besser verstehen.
Der im Blicklabor „Berührung“ vorgestellte „Bundle Explorer: Berühren“ ist der Prototyp des neuen Forschungstools. Mit diesem Prototyp können wir Forscherinnen Situationen und Weisen des Berührens in der digitalen Kindheit auf vielfältige Weise entdecken und beforschen.
Grundlage des „Bundle Explorers: Berühren“ sind 60 kurze Filme aus sechs Jahren kamera-ethnographischer Forschungsbeobachtungen zum Familienalltag junger Kinder. Die Filme wurden aus vielen Stunden Videomaterial ‚herauspräpariert‘ und zeigen insbesondere Momente der Berührung. Im Bundle Explorer sind diese Filme in sechs Berührungskategorien gegliedert, die die Vielfältigkeit von Berührungsformen im digitalen Alltag junger Kinder nachbilden:
akustische Berührung
immersive Berührung
Körperberührung
Dingberührung
gestische Berührung
Displayberührung
Diese Kategorien erlauben Nutzer*innen des Bundle Explorer, die Filme über eigene Wege zu erschließen.
Über das Blicklabor „Berührung“
Als Blicklabore bezeichnet die Kamera-Ethnographie Zusammentreffen, „Blicke als Blicke zu reflektieren und in konkreten Forschungszusammenhängen damit zu experimentieren “ (Mohn 2023, S. 198).
Zum Blicklabor „Berührung“ lud das Projektteam von B05 neben einer interessierten Fachöffentlichkeit die Wittgenstein-Expertin Birgit Griesecke, den Wissenschaftssoziologen Klaus Amann und den Erziehungswissenschaftler Jochen Lange. Das Blicklabor fand am 13. Dezember an der Universität Siegen statt (→ zur Veranstaltung) und bot Gelegenheit, den „Bundle Explorer: Berührung“ genauer kennenzulernen und in einer Werkstattphase auszuprobieren. Die Teilnehmer*innen waren bei der Erkundung des Bundle Explorers angehalten, die Filme zu schauen, Sinnespraktiken von Kindern aufzuspüren, zu verglichen und zuzuordnen sowie Einordnungen, Varianten und Grenzfälle zu prüfen. Anschließend diskutierten die Teilnehmer*innen ihre individuellen Erkundungen und Eindrücke.
Über den „Bundle Explorer: Berühren“ am Beispiel der Kategorie „akustische Berührung“
Die Kategorie „akustische Berührung“ bildet eine von sechs Berührungskategorien, die im „Bundle Explorer: Berühren“ Videomaterial sondiert. In den Filmen der Kategorie akustische Berührung spielt das Akustische von Berührungen eine besondere Rolle. Für Forscherinnen war bei der Auswahl und Zusammenstellung der Filme die Frage, wie sie akustische Berührung anwenden und konturieren lässt.
Nutzer*innen landen eher zufällig in dieser Kategorie: Nachdem sie im Starttableau (Bild 1) ein Video auswählen, bietet ihnen das Tool eine Zusammenstellung von zwei Filmszenen (Bild 2) an, die noch nach keiner Kategorie benannt sind: Im ersten Video hört ein 2-jähriges Kind Musik mit einem MP3-Player; im zweiten Video erkundet ein Kleinkind ein Smartphone und wird von der Klingelton-Melodie überrascht. Über beschreibende Annäherungen ergeben sich aufgespürte Praktikenbündel sowie ihre materiellen Arrangements (Bild 3) und entsteht die Frage, was diesen Filmen gemeinsam ist.
Anschließend lädt der Bundle Explorer die Nutzer*innen dazu ein, weitere „Varianten“ (Bild 4) und „Grenzfälle“ (Bild 5) akustischer Berührungen zu erkunden. Zu den Varianten zählen u.a. Videos, in denen ein Kind mit einem Luftballon ein quietschendes Geräusch erzeugt, ein anderes seine Stimme zum Vibrieren bringt und ein weiteres mit seiner Großmutter am Handy singt (Bild 4). Als Grenzfälle bietet der Bundle Explorer Videos an, bei denen Berührungen nicht klar erkennbar sind. So im Video, im dem zwar Erwachsende zwar akustisch agieren, aber das Kind nicht darauf reagiert (Bild 5).
All diese Fälle dienen dazu akustische Berührungen bei Kindern besser zu verstehen. Die Forscherinnen interessiert insbesondere, wie Kinder sich von den jeweiligen Klängen berührt zeigen. Anhand der Videos haben die Forscherinnen drei Arten akustischer Berührungen identifiziert, in denen sich Berühren und Berührtsein zeigt durch:
Musik, Bewegung und Tanz
Stimmen, Gespräch und Gesang
Geräusch, Experiment und Improvisation
Das Videomaterial im Bundle Explorer lädt aber nicht nur zur Auseinandersetzung mit Fragen, wie sich akustische Berührungen bei Kindern zeigen und wodurch sie ausgelöst werden. Die Videos fordern auch dazu auf, sich weitere Berührungsformen vorzustellen, die bisher nicht gefilmt wurde.
Über die Fachbeiträge
Die geladenen Expert*innen betonten den innovativen Gehalt der Forschungsplattform, die neue Zugänge zu sinnlichen Erfahrungen erlaube und eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Forschungsfragen rund um menschliche Sinnes- und Handlungspraktiken ermögliche.
Mit dem Bundle Explorer liege für die praxeologische Forschung ein wichtiges Tool vor, um nonverbale Gesten und Handlungen aus der Anschauung heraus untersuchen zu können. Mit dem Blicklabor habe das Forschungsteam zudem ein überzeugendes Veranstaltungsformat geschaffen, das eine kritische Auseinandersetzung mit nonverbalen Sinnespraktiken gestattet und forschende Blicke und Blickdifferenzen zum Tragen bringt.
Ähnlich eines Alpenföhns bringt, wie Birgit Griesecke betonte, der Bundle Explorer für einen begrenzten Zeitraum spektakuläre Fernsichten näher. Die spürbare Nähe – in ihrem Vergleich der Berge – bringe aber zugleich Euphorie, Kopfschmerzen und Schwindel (nach den Bergen) mit sich. Entscheidend in der Forschung zu Sinnespraktiken sei es ihrer Ansicht nach, die Erfahrungen derart präsent zu halten, dass sie in die Forschung integrierbar werden. Für die Weiterentwicklung schlägt sie vor, Berührung jenseits des digitalen Familienalltags in die Forschung einzubeziehen. Dies würde das Verhältnis Berührung und Digitalität noch detaillierter in den Fokus rücken.
Jochen Lange verglich den Bundle Explorer mit einer ‚Findemaschine‘ bzw. einem ‚Findespiel‘, der sich zwischen Publikation und Forschungstool bewegt. Für ihn stellen die Funktion und Bedeutung von Berührung alternative Zugänge dar, mit denen Sinnespraktiken mithilfe des Bundle Explorers weiter erkundet werden können.
Für Klaus Amann verfügt der Bunde Explorer über einen experimentellen Charakter, der reflexive Momente eröffnet und neue Erkenntnisse erlaubt. Entsprechend kritisch sei nach ihm auch Berührung unter den Bedingungen der digitalen Welt zu befragen.
Gemeinsam mit den Teilnehmer*innen brachten die Expert*innen zahlreiche Vorschläge ein, um die Forschung zu digitalen Sinnespraktiken und die weitere Arbeit am Bundle Explorer voranzubringen. Zu ihren Anregungen gehörten u.a. Sinnespraktiken im Kontext von „Atmosphären“ zu betrachten, visuelle Berührungen einzubeziehen, Resonanz zur Analyse von Berührung zu berücksichtigen und Berühren und Berührtsein nicht als notwendig aufeinander bezogene Merkmale von Berührung anzusehen.
Das Forschungsteam von B05 bedankt sich herzlich bei allen Teilnehmer*innen für den kritischen und inspirierenden Austausch!
Den Link zum „Bundle Explorer: Berühren“ als auch das Template zum Erstellen eigener Bundle Explorer (de/en) erhalten Sie auf Anfrage bei Astrid Vogelpohl.
Literatur
Bina E. Mohn (2023): Kamera-Ethnographie – Ethnographische Forschung im Modus des Zeigens. Transcript.
Theodore R. Schatzki (2016): Praxistheorie als flache Ontologie. In: Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm. Transcript, S. 29-44.
Birgit Griesecke & Werner Kogge (2022): Mit Wittgenstein arbeiten. Ein Methoden Manual, Working Paper Series Collaborative Research Center 1187 Media of Cooperation, No. 24.
Über das Forschungsteam von B05
Das Projekt B05 „(Frühe) Kindheit und Smartphone. Familiäre Interaktionsordnung, Lernprozesse und Kooperation“ untersucht Sinnespraktiken in digitalen Kindheiten und leistet einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis der kooperativen Verfasstheit des menschlichen und technischen Sensoriums.
Astrid Vogelpohl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und forscht kamera-ethnographisch zu Subjektivationspraktiken im digitalen Familienalltag.
Bina E. Mohn war bis Ende 2023 wissenschaftliche Mitarbeiter in B05. Sie forscht zu Reflexiver Ethnographie, Visueller Anthropologie und Medien. Sie ist Expertin für Kamera-Ethnographie: kamera-ethnographie.de