B05 - (Frühe) Kindheit und Smartphone. Familiäre Interaktionsordnung, Lernprozesse und Kooperation
Prof. Dr. Jürgen Streeck
„Mit der Untersuchung der Sinnespraktiken in digitalen Kindheiten leistet das Projekt einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis der kooperativen Verfasstheit des menschlichen und technischen Sensoriums.“
Zusammenfassung
Medienpraktiken bringen die Modi hervor, durch die die Welt in digitalen Kindheiten erfahrbar und verständlich wird und verbinden zugleich den Familienalltag mit gesellschaftlichen Digitalisierungsprozessen. Dies ist das Gesamtfazit der ersten beiden Phasen der Untersuchung medialisierter Formen alltäglicher familialer Interaktionen mit Kindern von null bis sechs Jahren. In dem Maße, in dem Möglichkeiten medialer Interaktion umfassender und selbstverständlich werden, entsteht dabei ein Paradox: Die „Akzente der Wirklichkeit“ (Schütz 1971) verschieben sich zwischen digital-medialer und ko-präsenter Interaktion. Während in der ersten Förderphase das Smartphone der frühen Kindheit als kooperativ erarbeitete Kooperationsbedingung im Familienalltag untersucht wurde, standen in der zweiten Förderphase Lernpraktiken im Fokus, die sich in Situationen mit Erwachsenen, Kindern und digitalen Medien entfalten. Die Beobachtungen und Analysen der Produktion und Evaluation von Familienfilmen, Selfies und Fotos haben virtuelle Welten als alltägliche familiale Orte und das Smartphone als Speicher von Erinnerungsdaten konturiert. Es wird deutlich wie Medienpraktiken den familial-biographischen Erlebniszusammenhang erweitern und verändern. Am Beispiel von Videointeraktionen zeigt das Projekt, wie neue Formen des In-Kontakt-Seins entstehen, ohne Dinge und Körper zu berühren. Die Grenzen von digital und analog, von berühren und berührt werden, verschieben und transformieren sich im Alltag von Kindern. Dies zeigt sich in unseren als Blicklabor konzipierten Publikation und Ausstellung „Berührung neu erfinden“, in der Berührung in digitalen Räumen als innovative und kooperative Sinnespraktiken (audio-)visuell arrangierend zur Darstellung gebracht wird.
Daran anschließend vertieft das Projekt die Analyse von Sinnes- und sensorischen Praktiken in der dritten Förderphase. Im Fokus steht die Frage nach der kooperativen Verfasstheit des menschlichen und technischen Sensoriums im Kontext der familiären und alltäglichen Interaktion mit digitalen Medien. Das Projekt setzt die kamera-ethnographische Langzeitstudie zu digitalen Medienpraktiken der frühen Kindheit fort und richtet den Forschungsschwerpunkt auf Sinnespraktiken. Es fragt, wie einerseits körperlich-analoge von digitalen Sinnespraktiken unterschieden werden und wie andererseits diese „Arten der Welterzeugung“ (Ways of Worldmaking, Goodman 1978) ineinanderwirken und neue Formen sinnlicher Erfahrung hervorbringen. Dazu führt das Teilprojekt zirkulär und kontrastiv angelegte Feldforschungsphasen in informellen (Familie, Peers) und formellen (Bildungsinstitutionen) Settings durch und nutzt gesicherte Familienkontakte und aufgebaute Kontakte zu Grundschulen und Kitas. Ausgehend von der Beobachtung temporärer Grenzverschiebungen zwischen analog/digital aber auch lebendig/nicht lebendig in den Medienpraktiken junger Kinder stehen diesmal auch digitale (Lern-)Spiele im Zentrum der geplanten Beobachtungen. Das Projekt entwickelt einen experimentierenden arrangierenden Forschungungsstil an audiovisuellen Materialien weiter, um neue Wege zu erproben, Praktiken aus der Anschauung heraus zu untersuchen. Damit eröffnet das Projekt einen innovativen methodologischen Zugang zum Situativen als einem dichten Handlungszusammenhang, bestehend aus sich wechselseitig bedingenden (Sinnes-)Praktiken.
Im Fokus des Projekts steht die Frage nach der kooperativen Verfasstheit des menschlichen und technischen Sensoriums im Kontext der familiären und alltäglichen Interaktion von Kindern und digitalen Medien.
Das Projekt richtet den Forschungsschwerpunkt auf Sinnespraktiken, und fragt, wie diese sich beispielsweise beim Spielen am Smartphone, beim Anschauen von Familienvideos auf dem Tablet (Bild 1) oder beim sich Verabschieden von der Großmutter im Videotelefonat per Fernkuss (Bild 2) in ihrer analog-digitalen Verwobenheit und Alltäglichkeit zeigen.
Im Zentrum des methodischen Zugangs steht die Kamera-Ethnographie, die systematische Zugänge zu den digital-analogen, sinnlichen und sensorischen Phänomenen ermöglicht. Kamera-Ethnographie erweitert partizipatives ethnographisches Forschen um einen forschungsreflexiven Kooperationsbegriff, der Kooperation und (inter-) disziplinäre Positionierung kombiniert.
Das Projekt erprobt unterschiedliche visuelle Forschungsformate, die auf die Situiertheit von Praktiken verweisen und arrangierendes Forschen ermöglichen. So wurde das Forschungstool Wordless Language Game, ein nach Praktiken und Medien sortiertes interaktives Videoarchiv (Bild 3), entwickelt, und ein interaktives, nonlineares Filmprojekt mit der Video-Authoring Software Korsakow (Bild 4) erstellt.
Das zunehmende Alter der beteiligten Kinder legt aktuell außerdem eine multi-methodische Vorgehensweise nahe, die auch Interviews, Zeichnungen oder Erkundungen von digitalen Umgebungen einbezieht, und so die Erfahrungen von Kindern als Expert*innen ihrer Lebensrealität in den Forschungsmethoden verstärkt berücksichtigt.
Seit 2016 untersucht die Langzeitstudie wie Kinder (3-10 J.) in Familien ‚analog-digitale‘ Welten als natürliche immer schon ‚hybride’ hervorbringen. Dies beobachten wir in alltäglichen Situationen wie beispielsweise beim Einschlafen (Bild 5) und bei der digital vermittelten Wahrnehmung von Welt (Bild 6).
Ab 2024 erschließt das Projekt schulische und außerschulische Einrichtungen sowie Kindergärten als neue Forschungsorte.
Die Ergebnisse der bis dahin 12-jährigen Langzeitstudie werden in einer multimedialen Publikation veröffentlicht und auf einer abschließenden Ausstellung mit Videoinstallationen präsentiert.
➔ Hier geht es zum Projektarchiv 2020–2023
Publikationen
Aktuell
Berührung neu erfinden. Sinnespraktiken in digitalen Kindheiten. Ein Blicklabor an 10 kamera-ethnographischen Szenen
Reinventing Touch. Sensory Practices in Digital Childhoods. Diverse perspectives encounter 10 camera ethnographic scenes
Was wird aus dem Berühren beim Zusammensein in digitalen Räumen? Die vorliegende Publikation befragt das Klischee der Berührungsarmut in der digitalen Kindheit anhand unterschiedlicher Perspektiven und Ansätze. Dabei werden Sinnespraktiken in der frühen Kindheit als Medienpraktiken beschrieben, in denen Haut und Displays, Augen und Ohren synergetisch zusammenwirken und zu sensorischen Ereignissen werden. Im Zentrum der Publikation stehen 10 kurze Filme zum Berühren. In der Kombination von Texten und Filmen werden Zusammenhänge von Körperlichkeit, Materialität, Leiblichkeit und Virtualität in digitalen Kindheiten erkundet. (c) LIT Verlag Berlin-Münster-Wien-Zürich-London.
Mohn, B. E., Wiesemann, J., Hare, P., Vogelpohl, A. (Hrsg.). 2023. Berührung neu erfinden: Sinnespraktiken in digitalen Kindheiten. Ein Blicklabor an 10 kamera-ethnographischen Szenen | Reinventing Touch: Sensory Practices in Digital Childhoods. Diverse perspectives encounter 10 camera ethnographic scenes. Reihe: Camera Ethnography. Berlin, Münster, Wien, Zürich, London: LIT. ISBN: 978-3-643-25034-6.