A05 - Kooperative Herstellung von Nutzerautonomie im Kontext der alternden Gesellschaft
Katerina Cerna
Dr. Marén Schorch
(Assoziiertes Mitglied)
„Das Teilprojekt erforscht und koproduziert autonomiefördernde soziotechnische Infrastrukturen für sensorbasierte Telecare- und Telemedizin-Anwendungen für die kommunale Pflege in Deutschland und Japan.“
Zusammenfassung
Das sozio-informatische Teilprojekt A05 untersucht kooperative, praxis-basierte Gestaltungsansätze autonomiefördernder medialer Infrastrukturen für alternde Gesellschaften. Forschungsgegenstand sind Praktiken der Medienaneignung und Mediengestaltung für und mit ältere/n Menschen, deren An- und Zugehörige, ehrenamtlich Tätige und professionelle Kräfte in Pflege und Medizin. In der ersten Projektphase standen grundlegende sozio-technische Aspekte der kooperativen Gestaltung von Aneignungsinfrastrukturen in der Verschränkung mit Medienpraktiken im Fokus. Faktoren wie Technikimaginationen und (Selbst-)Konzipierung älterer Menschen als Techniknutzende wurden dazu ethnographisch nachverfolgt und deren Einfluss auf teilhabefördernde, medienbezogene Co-Produktionsprozesse betrachtet. Während der zweiten Projektphase wurden die initialen Forschungsfragen auf Community-basierte Co-Produktions- und Aneignungsaspekte von Sorgegemeinschaften überführt. In Kooperationen mit lokalen Schweizer Caring Community-Initiativen wurden in einem partizipativen bottom-up Prozess Gestaltungsbedingungen erforscht und verschiedene analoge und digitale Maßnahmen kooperativ konzipiert und entwickelt, u. a. eine digitale Plattform, die ältere Menschen und Mitglieder der Sorgegemeinschaft dabei unterstützt, passgenaue Informationen und Verweisungswissen für verschiedene Hilfeszenarien zu finden.
In der dritten Phase wird der Fokus auf autonomiefördernde Aneignungsinfrastrukturen in und von Caring Communities beibehalten, jedoch wird der Aspekt der pflegerischen und medizinischen Versorgung durch sensorbasierte Telecare- und Telemedizin-Anwendungen in Community Settings in den Vordergrund gerückt. Damit wird das Augenmerk auf kooperative Gestaltungs- und Aneignungsprozesse um Medien-, Daten- und sensorische Praktiken in Therapeut*innen-Technik-Patient*innen-Triaden gerichtet, um Potentiale zur Autonomieförderung der Nutzenden auszuloten. Dabei spielt die Rolle der Datenerfassung, des Sensing, telemedizinischer Anwendungen genauso eine Rolle wie kooperative Praktiken des Sense-Making der erhobenen Daten. Das Teilprojekt nimmt dazu eine antizipatorische Technikgestaltungsperspektive ein und berücksichtigt aktuelle Kontroversen und Pflegeszenarien der Zukunft. Nachdem in der zweiten Phase lokale Sorgegemeinschaften im Umfeld nationaler Strategien in der Schweiz untersucht und mit deutschen Ansätzen verglichen werden konnten, bieten sich für die dritte Phase Vergleichsstudien mit Japanischen Ansätzen der Community-based Integrated Care an, die die Versorgung und Pflege älterer Menschen im Rahmen nationaler Strategien der ‚Society 5.0‘ als kombinierte Community- und ehealth-basierte Anstrengungen verfolgen. Die japanischen Versorgungsansätze richten sich u. a. auf Szenarien vernetzter Smart Homes und Robotik, welche als Vision weiter ausgestaltet sind als in Deutschland. Der Beitrag von A05 zielt auf empirische, konzeptuelle und prototypische Ergebnisse ab, welche, analog zur qualitativen CSCW- und HCI-Forschung, die Spezifik der healthcare-Arbeit (u. a. Körper-, Beziehungs- und Emotionsarbeit) ins Zentrum stellen und unter neuen Bedingungen der Mensch-Technik-Interaktion betrachten. Der Forschungsfokus richtet sich dabei auf soziale und kulturelle Hürden, u. a. Ängste vor Autonomie- und Privatsphärenverlust oder die Vereinsamung in der eigenen Häuslichkeit, und neue Formen der (Beziehungs-)Arbeit und Kooperation, welche zur Implementierung innovativer sozio-technischer healthcare-Infrastrukturen notwendig sind. Damit trägt das Teilprojekt zum besseren Verständnis der komplexen Kooperationsprobleme und -lösungen in realen Lebenssituationen bei sowie zum sich verändernden Verhältnis von Sinnen und Sensoren, von Körperlichkeit und Technologie. A05 greift die Konzepte der Grenzobjekte, sozialen Welten und Arenen auf und fokussiert Grenzpraktiken, d. h. die aktive Herstellung materieller und symbolischer Grenzen in räumlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht sowie deren Veränderung, Verschiebung und Verwischung bzw. Neuverhandlung im Zuge veränderter sozio-technischer Praktiken, u. a. mit Blick auf die Emergenz neuer Professionen und Care Agencies.
Forschungsfragen
Den Mittelpunkt unserer Forschung innerhalb der 3. Phase des Sonderforschungsbereichs stellen Sensormedien dar. Diese untersuchen wir innerhalb und außerhalb Community-basierter Settings theoretisch und praktisch hinsichtlich ihrer Aneignungsstrukturen für Menschen höheren Alters bzw. solche mit erhöhtem Unterstützungsbedarf in den Kontexten Pflege und Gesundheitsprävention. Hier werden Medien-, Daten- und Sinnespraktiken sowie mögliche und notwendige Schnittstellen vor dem HIntergrund von Telecare- und Telemedizin-Anwendungen in kooperativen Situationen erforscht.
Im Rahmen dieses Forschungsvorhabens widmen wir uns u.a. den folgenden Fragestellungen:
- Wie formen Sensormedien die Kooperation in Community Care Settings?
- Wie wirken sich Sensormedien auf die Autonomie in der privaten Häuslichkeit und in der Healthcare-Arbeit aus?
- Welche Kompetenzen der Nutzenden fördern und fordern Sensormedien?
Sozio-technische Gestaltungsziele
Sozio-technische Gestaltungsziele unserer Forschung sind die Förderung von Kooperation und Stärkung der Nutzerautonomie vor dem Hintergrund der Entwicklung von Gestaltungsvorschlägen und Prototypen für Telehealth-Anwendungen.
Darüber hinaus möchten wir einen Beitrag zur Weiterführung der sozio-informatischen Methoden- und Konzeptentwicklung leisten.
Den Feldzugang erschließen wir uns über bestehende Netzwerke in Deutschland und am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokyo.
Das Projekt kombiniert ethnographische, aktionsforscherische und gestaltende Ansätze für die Co-Produktion sensorbasierter Telehealth-Anwendungen mit Patient*innen in ihrer direkten Lebensumgebung sowie mit Gesundheitspersonal im Arbeitsalltag.
Konkreter gesprochen werden Gestaltvorschläge sowie Prototypen unter Anwendung partizipativer Design-Methoden, insbesondere mittels der Ansätze von Participatory Action Research (PAR) (Cerna, K., Müller, C., Randall, D., & Hunker, M. (2022). „Situated scaffolding for sustainable participatory design: learning online with older adults“. Proceedings of the ACM on human-computer interaction, 6(GROUP), 1-25) sowie Community-Based Participatory Research (CBPR) (Müller, C., Hornung, D., Hamm, T. and Wulf, V. 2015. „Measures and Tools for Supporting ICT Appropriation by Elderly and Non Tech-Savvy Persons in a Long-Term Perspective“. ECSCW 2015: Proceedings of the 14th European Conference on Computer Supported Cooperative Work, 19-23 September 2015, Oslo, Norway. N. Boulus-Rødje, G. Ellingsen, T. Bratteteig, M. Aanestad, and P. Bjørn, eds. Springer International Publishing. 263–281) entwickelt, also unter Einbezug von Co-Forschenden multipler relevanter Akteursgruppen, z.B. Wissenschaftler, Praktiker, zu Pflegende sowie pflegende Angehörige und weitere Laien (Ehrenamt).
Empirische Methoden, die dahingehend zur Anwendung kommen, sind semi-strukturierte Interviews und häusliche Beobachtungen, welche unter einem Vergleich zwischen Deutschland und Japan über mehrere Wochen hinweg ethnografisch erhoben werden. Weiterhin kommen spw. in der empirischen Phase bspw, interaktive Methoden wie Cultural und Technology Probes (Gaver et al. 1999; Müller et al. 2023) oder auch interaktive, multimediale Tagebücher bzw. Sprachbücher (inkl. selbst erhobene Video- und Bilddaten) (Martin et al. 2012) zum Einsatz. Hinsichtlich der häuslichen Langzeitstudie stehen insbesondere die häusliche Integration von Telecare- und Telemedizin-Anwendungen sowie der Schutz der Privatsphäre der Nutzenden im Vordergrund. Weiterhin kommen antizipatorische Methoden aus dem Spektrum von Critical und Speculative Design, z.B. Design Fiction, hinsichtlich eines kollaborativen Prototypings zur Koproduktion wohlbefindensorientierter Zukunftsszenarien zum Einsatz.
Hinsichtlich einer Weiterentwicklung einer sozio-informatischen Methoden- und Konzeptentwicklung orientieren wir uns am Design Case Study- und Grounded Design-Ansatz.
Ein solch partizipatives Vorgehen findet in allen Phasen (Vorstudie, Design, Aneignung/Evaluation) der Studie statt.
AP 1: Kontextstudien zu Health Media in Community Care
Neben der Auswertung bestehender Aneignungsstudien von Telemedizin- und Telecare-Anwendungen von älteren Menschen mit Bezügen zu Community-Ansätzen werden ergänzend die gesellschaftlichen Diskurse über Telemedizin und Telecare für die Versorgung älterer Menschen international vergleichend anhand bestehender Studien rekonstruiert. Weiterhin werden eigene qualitative Vorstudien mittels teilnehmender Beobachtung und semi-standardisierter Interviews in Deutschland und Japan durchgeführt, um Aneignungs- und Kooperationspraktiken um Telecare- und Telemedizin-Anwendungen zu erheben.
AP 2: Partizipative Erkundung von Community Telehealth Technologie
Zur Untersuchung konkreter Aneignungsprozesse von Telemedizin- und Telecare-Anwendungen durch ältere Menschen wird ein Real-World-Living Lab (s. www.praxlabs.de) aufgebaut, das aus Haushalten und Arbeitsumgebungen der zu untersuchenden Versorger besteht. Geplant sind im Rahmen der hier geplanten Langzeitstudie regelmäßige Workshops mit den Haushaltsmitgliedern, zu denen interaktive Forschungsmethoden aus dem Umfeld der HCI genutzt werden, wie Design Fiction und kollaboratives Prototyping, um Zusammenhänge und Zusammenspiel oder Abwehr der technischen und der menschlichen Sensorik, also von Sinnen und Sensoren, anhand der vorab erhobenen Daten durch die Teilnehmenden iterativ auszuloten.
AP 3: Partizipatives Entwerfen von Interfaces und Infrastrukturen
In Co-Design Workshops werden neue prototypische Lösungen, Interfaces und Infrastrukturen, entwickelt, die Sinne und Sensorik für alle an der Nutzung von Telemedizin/-care Beteiligten in gelingender Weise zusammenbringen. Dazu ist eine Serie von Co-Creation-Sitzungen mit den Praxlabs-Haushalten und mit weiteren Stakeholdern aus dem Gesundheitssektor geplant.
Diese Designprodukte als Aushandlungsartefakte (Müller et al. 2012) bilden jeweils die Basis für weitere Iterationsschleifen in Folgeworkshops.
AP 4: Theorie- und Konzeptarbeit zur Entwicklung von Querschnittsthemen für Design Case Studies im internationalen Vergleich
Im Sinne eines fortlaufenden Aufbaus eines Korpus an Design Case Studies für den Anwendungsbereich „IT für die alternde Gesellschaft“ werden die erarbeiteten Ergebnisse auf relevante Querschnittsthemen hin untersucht, sprich analysiert und evaluiert, die zu einer Korpusbildung für Konzepte und Theorien mittlerer Reichweite beitragen.
Neben einer Nachhaltigkeitssicherung für die Co-Forschenden findet eine kontinuierliche intensive Öffentlichkeits- und Netzwerkarbeit auf regionaler und überregionaler Ebene sowie im nationalen Kontext statt, um zu aktuellen Diskursen zur Community-orientierten Gesundheitsversorgung sowie zu Professionalisierungsdiskursen in der Pflege (in einem bescheidenen Maße) beizutragen.
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Publikationen
Aktuell
CareConnection – A Digital Caring Community Platform to Overcome Barriers of Asking for, Accepting and Giving Help
Many people would like to remain in their familiar surroundings in old age, even if they need certain forms of assistance. But what exactly does everyday life look like, where are the hurdles and where can community-based support options start? The results of a citizen-based participatory interview study of community members of a rural Living Lab near Zurich, Switzerland and full-time researchers from two universities in Switzerland and Germany explore these questions.
Results of the study relate to physical limitations and potentials in old age, aspects of well-being and mental health, social engagement, relationships and networks, as well as the theme of ‘asking for help, accepting help and giving help’. Against the background of a key category, the barriers of ‘asking for, accepting and giving help’, an overarching reflection by the co-researchers and full-time researchers took place. This focus provided the basis for the participatory development of CareConnection, a digital community platform design that fosters social exchange and helps to overcome identified barriers, which can be physical, mental or social and within these categories temporal, spatial, structural and/or individual and thus enable or promote social encounters and interaction to establish a higher level of well-being and health.
Tanja Aal, Andrea Ruhl, Erich Kohler, Apurva Choudhary, Pragya Bhandari, Namrata Devbhankar, Silvia Egli, Gashi Shkumbin, Heidi Kaspar, Madlen Spittel, Dennis Kirschsieper, and Claudia Müller. 2023. “CareConnection – A Digital Caring Community Platform to Overcome Barriers of Asking for, Accepting and Giving Help”. In Proceedings of Mensch und Computer 2023 (MuC '23). Association for Computing Machinery, New York, NY. 318–324. DOI: https://doi.org/10.1145/3603555.3608578.