SFB 1187 ›Medien der Kooperation‹ an der Universität Siegen

A04 - Normale Betriebsausfälle. Struktur und Wandel von Infrastrukturen im öffentlichen Dienst

Teilprojektleitung:

Prof. Dr. Jörg Potthast

Mitarbeitende:

Damaris Lehmann, M.A.

Assoziierte Mitarbeiterin:

Dr. Siri Lamoureaux

Ehemalige Mitarbeitende:

Dr. Michael Hubrich
(Ehemaliger Teilprojektleiter)

Dr. Tobias Röhl

Dr. Stefan Laser

 

Das Projekt erkundet, ob mediale Darstellungen technische Störungen im Schienen- und im Straßenverkehr zugunsten der Straße und damit zu Lasten des Klimas normalisieren. Es erarbeitet einen praxeologisch inspirierten Vorschlag, zeitgenössische Mobilitätskrisen in ihrer multiplen Realität zu dokumentieren.

 


 

Zusammenfassung

Disruption und Normalisierung stehen in einem bemerkenswert stabilen Zusammenhang (Wynne 1988; Potthast 2021). Zugleich sind die Muster eines normalisierenden Umgangs mit technischen Störungen, etwa im Hinblick auf ihre Zeitstruktur, durchaus vielfältig. Um diese eher mikroanalytischen Befunde der ersten und zweiten Laufzeit einem makrohistorischen Diskussionszusammenhang zuzuführen, knüpft das Teilprojekt in der dritten Laufzeit an Forschungen über ‚Große Technische Systeme‘ (GTS) an. Diese Forschungen werden oft herangezogen, um auf den irreduzibel sozio-technischen Charakter infrastrukturell bereitgestellter Leistungen aufmerksam zu machen. Eine grundlegende historiographische Ambition dieses Forschungsansatzes wird jedoch vernachlässigt: Die Entwicklung von Infrastrukturen lasse sich maßgeblich auf ein dynamisches Zusammenspiel von ‚Größe‘ und ‚Systemizität‘ zurückführen. Welche Rolle dabei Mustern der Normalisierung zukommt, soll im Rahmen einer vergleichenden Untersuchung zu einer Klärung beitragen, warum eine Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene so hartnäckig ausbleibt. Für den Vergleich bezieht das bisher auf öffentliche Verkehrsmittel beschränkte Projekt daher auch den motorisierten Individualverkehr mit ein. Verhilft die komparative Betrachtung zu neuen Aufschlüssen darüber, warum eine Verkehrswende hin zu einem weniger klimaschädlichen Modal split so hartnäckig ausbleibt? Welchen Anteil haben Muster der Normalisierung an diesen Beharrungskräften?

Historisch und territorial begrenzt auf Deutschland zwischen 1990 und 2023 wird das Teilprojekt die These verfolgen, dass in der Entwicklung der Schiene ein Umgang mit Störungen dominiert, der vorwiegend in systemische Aufwärtstransformation mündet. Im Kontrast dazu kann in der Entwicklung des Straßenverkehrs ein variabler Umgang mit Störungen erkannt werden, der vorwiegend seiner Größe (dem Momentum) förderlich ist, sich aber nicht in einer systemisch gesteigerten Selbstbeobachtung niederschlägt. Um diese These zu erhärten, rekonstruiert das Teilprojekt, wie die Tagespresse im genannten Zeitraum über Mobilitätskrisen berichtet. Als Mobilitätskrise gilt dabei, wenn zwei oder mehr der folgenden Mobilitätspraktiken durcheinandergeraten: Wohnsitzwechsel (gewählt, erzwungen), Fernreisen (beruflich, touristisch), beruflich bedingte Alltagsmobilität (Pendeln), alltägliche Freizeit- und Versorgungsmobilität. Maßgeblich für diese Analyse ist, wie bezogen auf die relevanten Threads Muster der Normalisierung greifen.

Das Teilprojekt erarbeitet eine vergleichende Fallstudie zur Entwicklung von GTS und offeriert über die Multiplizität der Störung und die Muster ihrer Normalisierung einen Vorschlag zur praxeologischen Neuausrichtung der GTS-Forschung. Im Rahmen des SFB entwickelt es einen historisch konturierten Beitrag zur Frage der Skalierbarkeit von Kooperation und setzt durch die praxeologische Perspektive auf die GTS-Forschung neue Impulse für die Kontroversenanalyse. Die Rekategorisierung von Mobilitätskrisen muss sich gegenüber einer etablierten Routine (Kosten-Nutzen-Kalkulation) beweisen und im Zuge eines schrittweise validierten Berichtsformats (für Disruptionen und ihre Normalisierung) praktisch bewähren.

 

Potthast, J. 2021. „Innovation und Katastrophe“. In Handbuch Innovationsforschung, herausgegeben von B.Blättel-Mink, I. Schulz-Schaeffer und A. Windeler, 363-380. Wiesbaden: Springer VS.

Wynne, B. 1988. „Unruly technology: Practical rules, impractical discourses and public understanding“. Social Studies of Science 18 (1): 147-167.

 

Große Technische Systeme (GTS) sind durch den russischen Angriffskrieg mit Wucht auf die politische und mediale Agenda zurückgekehrt. Mit einer zugleich stärker komparativen und konsequent praxeologischen Ausrichtung interveniert das Projekt, gestützt auf Befunde zum verteilten Umgang mit Störungen (2016-2023), in den nach GTS benannten interdisziplinären Forschungszusammenhang.

  • Das Projekt ermittelt, wie (lange) Störungen im Schienen- und im Straßenverkehr den Normalitätssinn strapazieren.
  • Es entwickelt es ein Berichtsformat für multiple Verkehrs-träger übergreifende Störungen.
  • Anhand einer regionalen Mobilitätskrise erprobt es, ob sich dieses Berichtsformat als Medium der Kooperation bewährt.

Unfälle im Schienenverkehr werden zentral registriert und untersucht. Anders als im Straßenverkehr sind diese Untersuchungen öffentlich zugänglich (© Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung)
Unfälle im Schienenverkehr werden zentral registriert und untersucht. Anders als im Straßenverkehr sind diese Untersuchungen öffentlich zugänglich
(© Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung)

Das Projekt arbeitet methodenplural:

  • Es stellt aus großen Beständen an Störungsmeldungen Threads zusammen und unterzieht diese einer sequentiell und aktantiell vergleichenden Analyse.
  • Es unterzieht die vorgefundenen Berichtsformate einer praxeologischen Revision.
  • Es führt dieses Berichtsformat im Zuge der Dokumentation einer regionalen Mobilitätskrise einem Pilotversuch zu.

 

F.A.Z. Die Berichterstattung zum 9€-Ticket war ungewöhnlich ausdauernd und reflexiv. Sie hat Diskussionen um eine multiple Krisenrealität befördert.
9-Euro-Ticket überlastet hunderte Züge 07.06.2022 dpa u.a.
Auf dem Land ist das 9-Euro-Ticket eher unbeliebt 10.06.2022 dpa u.a.
Ein Nachfolger für das 9-Euro-Ticket 12.06.2022 Dyrk Scherff
9-Euro-Ticket ist ein Erfolg 14.06.2022 AFP
Verlängerung des 9-Euro-Tickets ausgeschlossen 23.06.2022 Rahel Gloub
21 Millionen 9-Euro-Tickets im Juni verkauft 30.06.2022 dpa
So begehrt ist das 9-Euro-Ticket 07.07.2022 Reuters
9-Euro-Ticket sorgt für leere Sitzplätze in den Flixbussen 08.07.2022 Henning Peitsmeier
Was nach dem 9-Euro-Ticket kommt 12.07.2022 Corinna Budras
„Das 9-Euro-Ticket macht krank“ 16.07.2022 Sebastian Reuter u.a.
9-Euro-Ticket als Testfahrkarte 19.07.2022 Ralf Euler

Drei Schwerpunkte kennzeichnen den Fortgang der Untersuchung:

  • Eine Verlaufsanalyse gibt darüber Aufschluss, wie Störungen als Medienereignis einer Normalisierung zugeführt werden ­— und wie sich darüber Unterschiede in Größe und Systemarchitektur zwischen Schienen- und Straßenverkehr verfestigen.
  • Gegenläufig dazu erfolgt eine Forminvestition in ein beide Verkehrsträger übergreifendes Berichtsformat.
  • Inwiefern das revidierte Berichtsformat Aufschluss über verschränkte Mobilitätskrisen bietet, wird abschließend im Zuge einer ortssensiblen
    Untersuchung reflektiert.

Bushaltestellen am AR Campus, Universität Siegen (© Jörg Potthast 2019)
Bushaltestellen am AR Campus, Universität Siegen. (©Jörg Potthast 2017, cf. Potthast 2019, Fehlermeldungen, S.227)

Bushaltestellen am AR Campus, Universität Siegen (© Jörg Potthast 2019)
Bushaltestellen am AR Campus, Universität Siegen. (©Jörg Potthast 2017, cf. Potthast 2019, Fehlermeldungen, S.227)

 

➔ Hier geht es zum Projektarchiv 2020–2023

 

 

 

 

Publikationen

Aktuell

Störungen des öffentlichen Verkehrs sind nervenaufreibend. Doch wo beschwert man sich, wenn der Zug ausfällt? Beim Personal vor Ort oder gleich beim Unternehmen? Der ethnographische Blick ins Störungsmanagement der Verkehrsbetriebe zeigt: Jeweils für sich genommen ist keine der beiden Strategien hilfreich. Mit Rückgriff auf Forschungen zu Accountability und technischen Infrastrukturen zeichnet die organisations-ethnographische Studie nach, wie Fragen der Verantwortlichkeit technisch vermittelt und zwischen verschiedenen Akteuren hin- und hergeschoben werden. Diese »verteilte Zurechenbarkeit« lässt sich nicht in einzelnen Individuen verorten, sondern findet sich im Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure, in den Prozessen und Praktiken des Störungsmanagements.

Tobias Röhl, 2022. Verteilte Zurechenbarkeit. Die Bearbeitung von Störungen im Öffentlichen Verkehr. Frankfurt; New York: Campus. ISBN: 9783593515298. https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/soziologie/verteilte_zurechenbarkeit-17097.html

FAZ Interview von Uwe Ebbinghaus mit Tobias Röhl (01.08.2022) "Wir bitten, dies zu entschuldigen..."
zum Artikel

WDR 5 Interview von Thomas Koch mit Tobias Röhl (29.08.2022) "Die Entschuldigungen der Deutschen Bahn" 
zum Beitrag

 

Im Erscheinen

Potthast, Jörg. 2025. „Mobilitätskrisen und Große Technische Systeme“. In Handbuch Sozialwissenschaftliche Verkehrs- und Mobilitätsforschung, herausgegeben von Weert Canzler, Juliane Haus, Andreas Knie, und Lisa Ruhrort. Wiesbaden: VS Springer.
Potthast, Jörg. 2024. „Lost and Found, Followed by a Discussion On Critique With Deutsche Bahn“. In A Book of Exercises in STS. On Futures and Designs of Collective Life, herausgegeben von Sung-Joon Park und Richard Rottenburg. Manchester: Mattering Press.
Potthast, Jörg. 2024. „Innovation and Desaster“. In Handbook on Innovation Research, herausgegeben von Birgit Blättel-Mink und Ingo und Windeler Schulz-Schaeffer. Basingstoke: Palgrave MacMillan.

2023

Laser, Stefan. 2023. Obsoleszenz statt Transformation im Schienenverkehr. Über die Rolle der Bahn in der ökologischen Verkehrswende, eine Grüne Welle auf der Schiene und Hoffnungen in eine Kupplungsrevolution. Working Paper Series No 25 / SFB 1187 Medien der Kooperation. Siegen: Universität Siegen. http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/10201.
Laser, Stefan. 2023. „Verschwendung handhaben. Über Energie, Ressourceneinsatz und infrastrukturelles Erfahrungswissen in der Recycling- und Schienenindustrie“. In Nachhaltig(e) Werte schaffen. Arbeit und Technik in der sozial-ökologischen Transformation, herausgegeben von Thomas Barth, Melanie Jaeger-Erben, Georg Jochum, und Stephan Lorenz, 156-79. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN: 978-3-7799-7007-1. http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-7007-1.
Potthast, Jörg. 2023. „Socio-Material Practices in Irritating Situations“. In Materiality of Cooperation, herausgegeben von Sebastian Gießmann, Tobias Röhl, und Ronja Trischler, 287-306. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-39468-4_13.

2022

Tobias Röhl. 2022. Verteilte Zurechenbarkeit Die Bearbeitung von Störungen im Öffentlichen Verkehr. Frankfurt; New York: Campus. ISBN: 978-3-5935-1529-8 . https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/soziologie/verteilte_zurechenbarkeit-17097.html.

2021

Potthast, Jörg. 2021. „Lost and Found: Transforming Assistance at Digital Deutsche Bahn“. Working Paper Series Collaborative Research Centre 1187 Media of Cooperation, Nr. No. 19. https://www.mediacoop.uni-siegen.de/publikationen/.
Potthast, Jörg. 2021. „Innovation und Katastrophe“. In Handbuch Innovationsforschung, herausgegeben von Birgit Blättel-Mink, Ingo Schulz-Schaeffer, und Arnold Windeler. Wiesbaden: VS Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-17671-6_27-1.

2020

Coletta, Claudio, Tobias Röhl, und Susann Wagenknecht. 2020. „On time: temporal and normative orderings of mobilities“. In Mobilities, 15:635-46. https://doi.org/10.1080/17450101.2020.1805958.
Coletta, Claudio, Tobias Röhl, und Susann Wagenknecht. 2020. „On Time“. Special Issue, Mobilities 15 (5). https://www.tandfonline.com/toc/rmob20/15/5.
Röhl, Tobias. 2020. „From structure to infrastructuring? On transport infrastructures and socio-material ordering“. In Material Mobilities, herausgegeben von Ole B. Jensen, Claus Lassen, und Ida Lange, 16-31. New York: Routledge.

2019

Gießmann, Sebastian, Tobias Röhl, und Ronja Trischler, Hrsg. 2019. Materialität der Kooperation. Medien der Kooperation. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-20805-9.
Korn, Matthias, Wolfgang Reißmann, Tobias Röhl, und David Sittler. 2019. „Infrastructuring Publics: A Research Perspective“. In Infrastructuring Publics, herausgegeben von Matthias Korn, Wolfgang Reißmann, Tobias Röhl, und David Sittler, 11-47. Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-20725-0_2.
Korn, Matthias, Wolfgang Reißmann, Tobias Röhl, und David Sittler. 2019. Publics of Infrastructures – Infrastructures of Publics. Media of Cooperation. Wiesbaden: Springer. https://www.springer.com/de/book/9783658207243.
Potthast, Jörg. 2019. „Fehlermeldung und Elitenversagen am Beispiel des Öffentlichen Verkehrs“. In Diagonal, 40:221-43. https://doi.org/10.14220/9783737009980.221. 2019_Fehlermeldung.pdf.
Potthast, Jörg. 2019. „Medienpraktiken in irritierenden Situationen“. In Materialität der Kooperation, herausgegeben von Sebastian Gießmann, Tobias Röhl, und Ronja Trischler. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-20805-9_14.
Röhl, Tobias. 2019. „Making failure public. Communicating breakdowns of public infrastructures“. In Infrastructuring Publics, herausgegeben von Matthias Korn, Wolfgang Reißmann, Tobias Röhl, und David Sittler. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-20725-0_10.

2017

Potthast, Jörg. 2017. „Reflexionen zur Ökologie sichtbarer und unsichtbarer Arbeit“. In Susan Leigh Star. Grenzobjekte und Medienforschung, herausgegeben von Sebastian Gießmann und Nadine Taha, 313-22. Bielefeld: transcript. https://doi.org/10.14361/9783839431269-013.
Potthast, Jörg. 2017. „The sociology of conventions and testing“. In Social Theory Now, herausgegeben von Claudio Benzecry, Monika Krause, und Isaac Ariail Reed, 337-60. Chicago: UP. https://www.degruyter.com/document/doi/10.7208/9780226475318-013/html.
Röhl, Tobias. 2017. „Auf Der Suche Nach Störungen Im System“. Bahn-Manager 6: 116-17.