Ein Sprachspiel zum ‚Animieren‘ als hervorbringende Interaktionspraktik
mit Jürgen Streeck (The University of Texas at Austin), Ehler Voss (Universität Bremen, Worlds of Contradiction) sowie Hendrik Bender, Jutta Wiesemann, Astrid Vogelpohl und Hoa Mai Trần (Uni Siegen, SFB 1187).
Anmeldungen bitte bis zum 20. Juni 2025 an Astrid Vogelpohl.
Zum Blicklabor ‚Animieren‘
Im digitalen Alltag von Kindern beobachten wir im Projekt „(Frühe) Kindheit und Smartphone“ vielfältige Interaktionen zwischen Wesen aller Art. Kinder gehen dabei in ihrem Tun spielerisch mit den Grenzen üblicher Kategorisierungen um. Ob etwas als lebendig, digital, menschlich oder tierisch gelten kann, erweist sich erst im Tun. ‚Etwas‘ kann mal dies, mal das sein, im ‚als ob‘ des Spiels. ‚Animieren‘ kam uns in den Sinn, als ein Begriff, der auf Interaktion als Prozess wechselseitigen Hervorbringens verweist, in dem permanent etwas zu etwas ‚gemacht‘ wird.
Eine animistische Weltsicht, die aus einer traditionell modernen Perspektive als kindlich (Jean Piaget, Das Weltbild des Kindes, 1926) oder primitiv (Edward Burnett Tylor, Primitive Culture, 1871) angesehen wird, erfährt aktuell eine Umdeutung. Anthropologen wie Tim Ingold, die die Welt als in einem permanenten Prozess des Werdens befindlich ansehen, betrachten Lebendigkeit nicht als Eigenschaft von Personen, sondern vielmehr als „dynamic, transformative potential of the entire field of relations within which beings of all kinds, more or less person-like or thing-like, continually and reciprocally bring one another into existence“ (Ingold 2006, S. 10). So wird ‚Animieren‘ zu einem ‚doing‘ der Welterzeugung.
Im Blicklabor wollen wir anhand kurzer Filme aus unterschiedlichen Forschungsfeldern den Begriff ‚animieren‘ umspielen. Wir verfolgen dabei eine in unserer kamera-ethnographischen Forschungspraxis entstandene Orientierung an Wittgensteins Sprachspiel-Ansatz (grammatische Untersuchung), die wir in eine ‚zeigende Grammatik‘ umwandeln (Mohn, 2023). Indem wir Praktikenbündel (Schatzki 2002) und ihre Umgebungen identifizieren, wird ein Zugang zur jeweiligen Situierung von ‚Animieren‘ eröffnet. Das Spektrum an Situierungen wiederum bietet die Basis für eine praxeologische Konturierung von ‚Animieren‘ als Praxis und Begriff.
Programm
9:30 Come together
10:00 Begrüßung (Jutta Wiesemann)
10:10 Zum Hinschauen animieren – Die kurze Form als Grundlage kollaborativen arrangierenden Forschens (Astrid Vogelpohl)
10:20 Inter-Animation – Tactile Empathy, Mimesis, and Gesture (Jürgen Streeck)
Ich interessiere mich für die besondere Art von „Inter-Animalität“ und „Inter-Affektivität“, die wir mit anderen Lebewesen durch Berührung erreichen können, und wie diese Fähigkeit mit unseren umfassenderen mimetischen Fähigkeiten zusammenhängt. Der Mensch ist für seine außergewöhnliche Fähigkeit zur Nachahmung bekannt, und es wurde behauptet, dass Kultur durch „allgegenwärtiges Kopieren“ übertragen und akkumuliert wird. Ich interessiere mich mehr für die Tiefe der Mimesis als eine Form der Interkorporalität, d. h. für die Formen und Grade des gegenseitigen Empfindens, die verschiedene Formen der körperlichen Ko-Präsenz und Interaktion ermöglichen, und für die Rolle der „En-Kinästhesie“ (Stuart 2017) oder der kinästhetischen Resonanz dabei. Aufgrund der „phänomenologischen Reduktion“, die sie mit sich bringt, da sie den Zugang zu Worten oder psychologischen Zuschreibungen ausschließt, bin ich neugierig, wie Interaffektivität in Interaktionen mit nicht- menschlichen Tieren erreicht und erlebt wird.
10:40 Das Unsichtbare animieren – Medienpraktiken des Ghost Hunting (Ehler Voss)
Ghost Hunting ist eine mediumistische Praxis in der Tradition des Spiritismus, mit der in einer Mischung aus religiöser Anrufung, kommerzialisiertem Entertainment und wissenschaftlichem Anspruch mit gewöhnlich spielerischem Ernst versucht wird, Kontakt zu meist menschenähnlichen Geistern aufzunehmen und mit ihnen mehr oder wenig phatisch zu kommunizieren. Mit Hilfe des menschlichen Körpers und verschiedener technischer Mess- und anderer Geräte wird versucht, das Unsichtbare zu animieren, sich sichtbar, hörbar, fühlbar und identifizierbar zu machen. In einzelnen kurzen Filmsequenzen werden die Bündel der Praktiken nachvollzogen, mit denen der Kontakt sowohl ge- als auch immer wieder misslingt.
11:00 Animierende Blicke – Das Verhältnis von Blick und Bewegung in der Interaktion mit Drohnen (Hendrik Bender)
Drohnen in Form kleiner sensorgestützter und mit Kamera versehener Quadrocopter sind längst fester Bestandteil unserer alltäglichen Bilderwelten geworden. Jedoch gerade in der frühen Phase freizeitlich genutzter Drohnen war der Blick nicht auf die durch sie ermöglichten Aufnahmen gerichtet, sondern auf die Drohne selbst. Drohnen treten hier als agentische Medien in Erscheinung, die durch ihre selbständig ausgeführten Bewegungen – das Schweben, Manövrieren und Verfolgen – den Anschein eines Eigenlebens erregen. Doch was animiert die Drohne zu ihren Bewegungen? Was nimmt sie von ihrer Umgebung und ihren Nutzer*innen wahr? Und umgekehrt, was macht die Drohne mit ihren Nutzer*innen? Der Impulsvortrag stellt das Verhältnis von Blick und Bewegung in der Interaktion mit Drohnen in den Vordergrund und fragt, in welche Beziehung der Begriff des Animierens mit Ansätzen von Agentschaft gebracht werden kann.
11:20 Animierte, animierende Kindheiten – mehr-als-menschliche Interaktion (Astrid Vogelpohl und Hoa Mai Trần)
Kinder begegnen in ihrem Alltag zunehmend digitalen, animierten Figuren. Animierte Charaktere bewegen sich in Filmen über Displays und lassen sich in Spielen darüber bewegen, Roboterhunde und andere digitale Gegenstände, Dinge und Spielzeugbevölkern die Kinderzimmer. Angeregt durch diese Beobachtungen begann uns zu interessieren, wie, nicht nur in digitalen Settings, Akteure auf unterschiedliche Weisen miteinander interagieren, voneinander animiert werden und wie dabei etwas zu etwas ‚gemacht‘ wird. ‚Animieren‘ erscheint uns dabei als ein Begriff, mit dem sich die vielfältige wechselseitige Aktivierung/Stimulation sowie emotionale Affizierung und Aufladung in Interaktion analytisch fassen lässt.
11:40 Kaffee-Pause
12:00 Diskussion der Impulse zum „Animieren“
12:45 Mittagspause
13:30 – 14:30 Werkstattphase
14:30 Kaffeeepause
14:45 – 15:45 Bestandsaufnahme Animieren und seine Zeigbarkeit (Moderation Jutta Wiesemann)
15:45 Abschluss, Ausblick
Referenzen
Ingold, Tim (2006). Rethinking the animate, re-animating thought. Ethnos, 71(1), 9–20. https://doi.org/10.1080/00141840600603111
Mohn, Bina E. (2023). Kamera-Ethnographie – Ethnographische Forschung im Modus des Zeigens. Programmatik und Praxis. Transcript.
Piaget, Jean (1926). La représentation du monde chez l’enfant, Alcan: Paris 1926, 424 S. (dt. Das Weltbild des Kindes, Klett-Cotta: Stuttgart 1978, 311 S.)
Schatzki, Theodore. (2002). The Site of the Social: A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change. Bibliovault OAI Repository, the University of Chicago Press.
Tylor, Edward Burnett (1871). Primitive Culture: Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art, and Custom: Volume 1. Cambridge library collection. Anthropology.
Veranstaltungsort
Campus Herrengarten
AH-A 217/18
Herrengarten 3
57072 Siegen